Am Morgen danach sitzen wir immer noch fassungslos auf dem Sofa und fragen uns, was gestern passiert ist. Daher haben wir uns außerhalb der Reihe beraten und unsere Analyse in Form eines Kommentars eingesprochen. Die verschriftlicht Version findet ihr hier unter der Folge.
Zu einem 8:0 etwas zu sagen, ist so, als müsste man einen Unfall beschreiben: Im Endeffekt ging es allen zu schnell und die Schuldfrage steht im Raum.
Die Aufstellung, die Sandro Schwarz gewählt hat, lässt sich schnell erklären: Hack war die einzige Alternative für den gelbgesperrten Niakhaté. Gabriel sollte die Geschwindigkeitsdefizite von Brosi kompensieren und durch seinen Offensivdrang die AV von Leipzig zwingen, tiefer zu stehen.
Es klingt nach Zynismus, gehört aber zu einer differenzierten Analyse: Die Mainzer waren im Spiel, die Grundidee klar erkennbar, den schnellen Pass in die Spitze zu suchen. Das 0:1 darf aber niemals fallen und offenbart ein Problem im Zentrum. Kunde Malong ist ein unheimlich fleißiger Spieler. So gut er defensiv antizipieren kann, so sehr steht seine Leistung, wenn er den Ball am Fuß hat, im Kontrast dazu. Im Tennis nennt sich so etwas ”unforced errors“, unerzwungene Fehler. Das kann mal passieren, ist aber nicht das erste Mal und erwischte die eigene Mannschaft kalt, die dann, und das ist Kritikpunkt Nummer 2, obwohl der Ball zurück zum gegnerischen Tor flog, sich nicht in der Lage sah, den Fehler des Vordermannes auszubügeln. RB hat viele ehemalige Mainzer in Trainerpositionen gehabt. Ralf Rangnick beruft sich mit Sacchi auf den gleichen Trainer wie Frank. Wenn diese Mannschaft etwas kann, dann ist es Umschalten. Was Mainz dann machte, sah mehr nach Verschalten aus. Denn Umschalten meint nicht nur von Defensive auf Offensive, sondern eben auch von Offensive auf Defensive in unser durch Jürgen Klopp berühmt gewordenes Gegenpressing.
In der 23. Minute gab es die Ausgleichschance durch Hack. Selbst jetzt waren die Mainzer im Spiel. Leipzig offenbarte eklatante Schwächen bei hohem gegnerischen Druck in der eigenen Verteidigung, etwas, was Sandro Schwarz offensichtlich aufgefallen war und er seiner Mannschaft mitgegeben hatte. „Der Trainer hat die Mannschaft wirklich gut eingestellt im Vorfeld“, gab Rouven Schröder hinterher zu Protokoll.
Das Schema des 0:1 wiederholte sich beim 0:2: Boëtius mit einem einfachen Fehlpass am gegnerischen Strafraum nach Einwurf für die Mainzer. Auch danach fühlte sich die Mannschaft dazu angehalten, den Fehler des Nebenmannes auszubügeln und im schlimmsten Fall ein taktisches Foul zu begehen. Hack verteidigte zu offensiv und allein. Pressing oder Gegenpressing funktioniert so nicht. Machen nicht alle mit, geht es schief und wird sogar gefährlich.
Mit Blick auf das 3:0 zog sich das wie ein roter Faden durch das ganze Spiel. Leipzig schaffte Überzahl auf der ballfernen Seite, trotzdem kriegten Gabriel und Öztunali defensiv den Flügel zu. Werner konnte die Überzahl auf der ballfernen Seite nicht bedienen, musste er aber auch nicht, denn der gefährlichste Raum direkt vor dem 16er war blank. Öztunali stellte richtigerweise Werner in den Passschatten, aber die nominale 6, Kunde, ließ sich zu tief fallen und ging dann nicht mit aller Entschlossenheit drauf. Resultat: schöner Schuss und wenn Robin Zentner ihn nicht hielt, dann war er in diesem Moment nicht haltbar.
So könnte man jetzt Tor für Tor durchgehen. Die Muster wiederholen sich. Auf der 6 klafften riesige Löcher. Die Innenverteidiger versuchten nach vorne und diesen leeren Raum zu verteidigen, offenbarten dabei riesige Lücken in ihrem Rücken, einer von Leipzig ließ klatschen, der andere spielte tief, querlegen, fertig gebacken war der Torekeks. Und das hatte herzlich wenig mit der genialen Taktik von Julian Nagelsmann oder dem Taktik-Legastheniker Schwarz zu tun. Nach dem Spiel sagte Schwarz selbst den entscheidenden Satz: „Keine Grundordnung der Welt ersetzt dir Zweikampfverhalten.“
Und Schwarz versuchte, Einfluss zu nehmen, brachte mit Latza für Szalai einen weiteren Akteur bereits in der 39. Minute, auch wenn es da schon 4:0 stand, um das Zentrum zu schließen. Kunde assoziierte einen Pass auf Poulsen, lief aus seinem Raum, um den Ball abzufangen, und entblößte dabei den gefährlichen Raum direkt vor dem 16er, Latza kam so schnell gar nicht nach. Kunde erreichte nicht einmal die Nähe des Balls, den er antizipiert hatte, und Poulsen ließ in genau den Raum, in dem Kunde zuvor stand, prallen, Latza kam nicht mehr hin, Werner steckte durch, Robin hielt und Poulsen schob den Abpraller rein.
Mainz war in seinem gewohnten 4-4-2 mit Raute gestartet. Es erzeugt eine unglaubliche Presenz im Zentrum, wodurch quasi immer in Überzahl und eine gute Staffelung entsteht. Alle 4 Tore fielen über das Zentrum. Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Gbamin konnte nicht gleichwertig ersetzt werden, auch weil zentrale Spieler wie Kunde und Latza und zu Anfang der Saison auch Baku komplett neben sich standen. Das Kollektiv, das Prunkstück von Mainz 05, ist momentan nicht in der Lage, diesen Abgang zu kompensieren. Das 4-4-2 mit Raute verlangt nach offensiven, aber auch spielintelligenten und technisch starken Spielern für ein funktionierendes Kurzpassspiel. Wieso Schwarz an diesem System dennoch festhält, muss kritisch hinterfragt werden.
Warum also darf Kunde auf dem Platz bleiben. Ganz einfach: ein Loch auf der 6 schließt sich nicht dadurch, dass man einen 6er rausnimmt, Schwarz versuchte ihm einen zweiten 6er an die Seite zu stellen und da Latza immer noch nicht aus seinem Formtief rausgefunden hat, tauschte er nicht die Spieler 1 zu 1, sondern wechselte einen Stürmer aus. Aber auch Sandros Systemwechsel half nur, weil Leipzig einige Gänge rausnahm.
Es ist zum zweiten Mal in dieser Saison die höchste Bundesliga-Pleite der Geschichte für 05. Es gab noch nie fünf Gegentore in einer Halbzeit gegen Mainz. Es gab aber auch noch nie einen Spieler mit sechs Scorerpunkten gegen uns. Werner alleine schoss über 50% aller Tore von RB gegen 05 – tolle Statistiken, die alle ins Nichts führen. Entscheidend und erschreckend ist eine andere: Trotz einer 8:0-Niederlage hat Leipzig mehr gefoult als Mainz 05. Das ist so, als würde ich meine Geldbörse auf dem Tresen liegen lassen und dann behaupten, ich wäre ausgeraubt geworden, weil mir die Realität zu peinlich ist. Gegenwehr gleich null. Das ist eher Mittäterschaft und entspricht in keiner Weise dem Mainz 05-Fußball. Die Fans können mit hohen Niederlagen umgehen, wenn sie denn wie in der letzten Saison gegen Leverkusen zu Stande kommen, einem Spiel, in dem es zur Halbzeit auch 4:4 stehen konnte und die Mannschaft sich zerriss und man am Ende trotzdem 5:1 verlor. Robin Zentner sprach später im Interview davon, dass die Mannschaft sich in der ersten Halbzeit aufgegeben habe.
Hier kommen wir zum emotionalen Kern der Sache: Die Frage hat sich erledigt, ob Mainz zu offensiv war. So gewinnst du keinen Blumentopf. Trotzdem: Wie kann es sein, dass eine Mannschaft aus der Halbzeit kommt und in fünf Minuten zwei Tore kassiert? Eine Frage, der sich Sandro Schwarz stellen muss. Von einem Trainer darf erwartet werden, dass er in der Halbzeit eine Ansprache findet, die das verhindert. Für Basic-Fehler wiederum kann Sandro Schwarz nichts. Man kann einer Mannschaft nicht das Fußballspielen abtrainieren. Latza dreht sich wiederholt in den geschlossenen Raum, anstatt durch die Kette das Spiel zu verlagern, so dass 90% der E-Jugendtrainer in Deutschland ausflippen. Hinzu kommen unbedrängte Stockfehler, kein Zweikampfverhalten. Dennoch: Die Tendenzen zu einer schlechten zweiten Halbzeit gab es bereits letztes Jahr und diese Krise hat sich ausgeweitet auf die ominösen guten 30 Minuten in jedem Spiel.
Die Mannschaft ist wahnsinnig inkonstant geworden. Als in der vergangenen Saison das Team eine realistische Chance auf Europa hatte, wurde es lässig und verabschiedete sich in den Abstiegskampf. Am Ende der Saison war der Fußball in Mainz dann ein einziges Feuerwerk. Leipzig und Hoffenheim, die gestern eine unheilige Allianz bildeten, wurden selbst nach Rückständen zersägt. Alles unter Sandro Schwarz.
Jetzt ist es an der Zeit Fragen zu stellen, die wehtun. Woher kommen diese Formtiefs? Warum sind wir in der Offensive so abhängig von einem extrem jungen Stürmer? Man muss dann aber auch fragen, wie es sein kann, dass ein Trainer von Mainz 05 wie Sandro Schwarz von Anfang an mit so wenig Kredit bei den eigenen Fans klarkommen soll? Und warum ist die Verletztenmisere nicht präsent? Einen Ji ersetzt du nicht einfach so, Mateta auch nicht und Stefan Bell offensichtlich ebenso wenig.
Mainz muss sich fußballerisch weiterentwickeln. Nach dem Kick-and-Rush-Fußball unter Martin Schmidt hat sich Sandro Schwarz wieder auf Ballbesitzelemente wie unter Thomas Tuchel besonnen. In einer Zeit, in der jede spielerische und taktische Entwicklung unter der Woche direkt in den Notizblöcken der Scouts und Analysten landet, muss das eigene Spiel schwieriger auszurechnen sein und dafür muss Mainz im eigenen Ballbesitz besser werden. Die Stärke der Mainzer Spielweise, die auf Klopp und Frank zurückgeht, ist es, individuelle Schwächen im Kollektiv zu kompensieren. Ballbesitzfußball hingegen, muss auf individuelle Qualität setzen. Diese Vereinbarkeit ist äußerst kompliziert und führt mit unter dazu, dass Mainz 05-Attribute wie Laufleistung, Zweikampfführung, die als Aggressivität und Emotionalität wahrgenommen wurden, scheinbar zu kurz kommen. Aber das Risiko eines solchen Versuchs ist es wert, weil sehr erfolgsversprechend.
Wer den Vergleich mit Freiburg zieht, übersieht gerne zwei Dinge: Freiburgs Fußball war immer schon mehr auf Ballbesitz ausgerichtet als der Mainzer Fußball. Und Freiburg war im Gegensatz zu Mainz bereit, damit in die zweite Liga zu gehen. Hier stellt sich für Mainz 05 die Frage: Fußballerische Entwicklung oder ergebnisorientierter Fußball und keine Entwicklung. Wozu das führen kann, dazu könnte Schalke 04 Auskunft geben, dessen Mannschaft sich explizit gegen eine Weiterentwicklung unter Domenico Tedesco wehrte, sich für ein ergebnisorientiertes Spiel aussprach und damit als Vizemeister fast abstieg.
Robin Zentner brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Das ist die Art und Weise, wie wir Fußball spielen wollen.“ Damit sind wir bei der Kernproblematik: Wie will Mainz 05 Fußball spielen? Das ist keine Ergebnisfrage, denn in Mainz hat sich Erfolg schon immer darüber definiert, junge Trainer und junge Talente auszubilden.
Dazu gehört, sie in die Verantwortung zu nehmen und zu entwickeln. Vor dem Spiel gegen Köln bezog Boëtius klar Stellung: Es liege nicht am Trainer, es liege an ihnen. Schaut man sich die Spiele diese Saison an, findet man viele Punkte, die dafürsprechen. Gegen Schalke verlor man in letzter Sekunde, weil das Zweikampfverhalten am Ende nicht mehr stimmte und weil davor Kunde sich im defensiven Mittelfeld bei eigenem Ballbesitz nicht in die bespielbaren Räume bewegte, weswegen man lange Bälle schlagen musste. Gegen Gladbach verlor man knapp und aufgrund – Vorschläge? – richtig: aufgrund falschen Zweikampfverhaltens im Zentrum, diesmal der Innenverteidiger. Und so geht das weiter und weiter.
Das Problem der Mannschaft sei, dass man die Leistung vom Training nicht auf den Platz bringe, sagte ein emotionaler Sandro Schwarz vor dem Spiel gegen Köln. Aber es sei kein Einstellungsproblem: Was ist es denn dann?
In den letzten zwei Jahren hat Mainz 05 viele junge, außerordentlich talentierte Spieler verpflichtet. Doch jetzt gilt es diesen Elan in Verantwortung zu verwandeln und die Spielfreude mit Haltung auf den Platz zu bringen. Solche Niederlagen wie gestern zwingen Spieler in die Verantwortung und es darf als Mainz 05-Fan durchaus mit Hoffnung beobachtet werden, dass Robin Zentner und Jean-Paul Boëtius sich vor die Mannschaft stellen und Haltung zeigen. Gleichzeitig drängt sich dadurch auch die Frage auf, wo der der eigentliche Mannschaftskapitän in dieser Situation war, der sich schützend vor eine junge Mannschaft stellt.
Was können wir als Fans tun? Andreas Bockius hat es in unserem letzten Talk perfekt auf den Punkt gebracht: Der Ton stimmt nicht. Der Kredit, den Sandro Schwarz nie bei den Fans hatte, ist überzogen. Auch wenn es nach einem 8:0 absolut zynisch klingt, ist es jetzt so wichtig wie nie, Geschlossenheit zu demonstrieren und eine regionale rheinhessische Tugend an den Tag zu legen: Eine positive Grundhaltung bewahren. Es gilt, als Fan einen Beitrag zu leisten und sich nicht selbst aus der Verantwortung zu nehmen. Eine negative Einstellung wird uns da nicht weiterhelfen.
Uns zeichnet aus, dass bei uns die normalen Geschäftsmechanismen nicht greifen. Mainz 05 ist die personifizierte Antithese zum Fußballgeschäft. Das heißt, mit minimalen Mitteln in der Bundesliga, Support bei Niederlagen, an Trainern festhalten, wenn andere sie feuern würden, und Ruhe bewahren, obwohl einem echt der Kittel brennt. Denn wir sind Mainz 05, wir gewinnen zwar keine Titel, aber wir sind der Fucking-Krisenbewältigungsmeister.
Wie hast du das Spiel erlebt? Schreib es uns. Entweder hier in den Kommentaren oder auf Facebook, Twitter oder Instagram.