Rückwärts angreifen – die Entdeckung des offensiven Kollektivs

Wenn man vorwärts verteidigen kann, kann man dann auch rückwärts angreifen? Jae-Sung Lee beantwortet die Frage mit: „Ja!“ Denn seit Bremen ist alles anders.

Das Gefühl zwischen Kopf und Herz hin- und hergerissen zu sein, heißt Jae-Sung Lee. Lee war bis vor kurzem ein Sinnbild des zentralen Problems im Spiel bei Mainz 05. Manch ein Außenstehender hat sich gedacht, Bo Svensson liebt die Defensive, deswegen kann seine Mannschaft nicht angreifen. Das konkrete Problem war, dass die 05er weitestgehend stabil im Kollektiv verteidigten, aber im Angriff zu häufig in Unterzahl gerieten. Der FSV war im Sturm auf Einzelaktionen angewiesen: Man stand gut, traf aber selten. Dem Alpen-Ronaldo Karim Onisiwo sei Dank, fiel das mit Saisonbeginn nicht allzu schwer ins Gewicht. Und ohne Lee ging wenig nach vorne, mit ihm aber zu viel nach hinten.
 
Jae-Sung Lee scheute den eigenen 16er und verschuldete mit seinem Defensivverhalten gegen Hertha und Leverkusen schmerzhafte Gegentore. Er war das Sinnbild für Mainz Nullkommafünf, ein offensiver Impuls, bei gleichzeitig eklatanten Mängeln im Defensivverhalten. Das verunsicherte Maxim Leitsch hinter ihm zusätzlich, der sich nach seinem Wechsel vom VfL Bochum noch zurechtfinden musste. Auch, dass Stach auf der anderen Seite merklich außer Form war, half der 3er-Kette nicht.
 
Häufig lief die Spieleröffnung des Gegners über Lees Halbraum. Sein Timing beim Herauslaufen stimmte nicht, er stellte seine Gegenspieler nicht in den Passschatten, zu einfach wurde er überspielt. So wurden die Wege für ihn zurück immer länger und der Abgang von Boetius defensiv spürbar.

Die Anzeichen waren schon früh erkennbar.

Bereits in der ersten DFB-Pokal-Runde gegen Erzgebirge Aue sah man aber, dass Lee eine defensivere Interpretation seiner Position guttun kann. In der Bundesliga dürfte die zweite Halbzeit gegen Bremen dahingehend den entscheidenden Erkenntnisgewinn bei Svensson und Co. gebracht haben. Die Halbzeitführung war glücklich, man konnte auf Konter setzten in der zweiten Spielhälfte und konzentrierte sich auf eine kompakte Defensive. Schlüssel hierzu war Jae-Sung, der häufig auf Höhe des 6ers zu finden war.

Die Vorteile seiner tieferen Positionierung wurden ersichtlich. Aufgrund des geringen Abstands zwischen den Ketten war der Raum hinter Lee geschlossen (er konnte schwerer überspielt werden), die Kommunikation mit der 5er-Kette wurde einfacher und Lee konnte nach vorne verteidigen. Es gab ihm mehr Sicherheit und strukturierte sein eigenes Spiel bis zu seiner Auswechslung. Seine Aufgabe ist es seitdem, dass Zentrum und den Halbraum zu schließen. Der Flügel hingegen ist seit Bremen Hoheitsgebiet von Aaron Martin und Anthony Caci. Defensiv stand der 1. FSV Mainz 05 gegen Werder souverän wie zu besten Tagen unter Svensson.

Das zweite generelle Problem blieb aber, dass die Mannschaft nicht kollektiv angriff. Trotz der hervorragenden Arbeit von Svensson ein Problem, das ihn und sein Team seit Tag eins begleitet. Das Resultat war, häufig auf sich allein gestellte Stürmer. Für Burkardt, der ebenfalls schwer in Tritt kam, eine umso schwierigere Aufgabe. Flanken im Allgemeinen sollten das Mittelfeld ermutigen mit anzugreifen, um durch zweite Bälle zu Abschlüssen zu kommen. Das funktionierte nur teilweise.

Jetzt hat man eine wichtige Änderung in diesem Plan vorgenommen. Onisiwo und Ingvartsen fungieren nach wie vor als Wandspieler, gegen Köln konnte man aber beobachten, dass sie sich häufig ins Mittelfeld als zusätzliche Anspielstation fallen ließen. Gerade Onisiwos Spiel profitierte davon. Sein Tempo und seine Stärken im 1 gegen 1 wurden augenscheinlich. Zusammen mit dem 8er (Lee, Stach), dem Außenverteidiger (Martin, Da Costa) und dem Halbverteidiger (Fernandes und Caci) praktizierten die Stürmer (Ingvartsen und Onisiwo) Steil-Klatsch-Steil in Reinform – schnelles Vertikalspiel nach zu vor erfolgter Verlagerung oder Ballgewinn im Zentrum durch Lee, der für Gleich- oder Überzahl im Zentrum sorgte. Man kam mit Tempo auf die Kölner Verteidiger. Ergebnis: Elfer, Gelb-Rot für die Rheinländer, sowie das 2:0 durch Kohr – alles über die linke Seite von Aarón und Lee initiiert.

Statistisch unübersehbar: vom defensiven Problem zum Zweikampfmonster

Lee profitierte, da er aus der defensiveren Position heraus einfacher Bälle erobern konnte. Der taktische Kniff: Lee musste weniger zurückverteidigen, als nach vorne angreifen. Sein Offensivdrang wurde gegen Köln defensiv optimal eingebunden. So brachte er es auf die meisten Torschussbeteiligung trotz defensiverem Anlaufverhalten. Sogar auf eine mehr als der Mann des Spiels Karim Onisiwo. Lee war mit 7 von 15 Torschüssen an fast der Hälfte aller Abschlüsse beteiligt. Er gewann die meisten Zweikämpfe (14) und gewann damit 2/3 seiner direkten Duelle. Vor allem aber seine Passstatistik explodierte mit 91,1%. Gegen Werder waren es gerade mal 58,6%, davor 63,6 und gegen Freiburg immerhin 85,7%, allerdings erst nach seiner Einwechslung in der 66. Minute. Lee wurde gegen Köln zur Zündschnur für die Offensivrakete, die mit sieben Toren ein Feuerwerk abfackelte.

Die Kölner verschoben und mussten viel laufen, bis sich auf einer Seite der Freiraum ergab – gerade in Unterzahl wurde das für die dezimierten Kölner zur Ausdauerfalle. Folgerichtig fielen vier der Tore nach der Gelb-Roten-Karte und vier (zwei Abseitstore) gegen Ende der zweiten Halbzeit. So erbrachte Lee eines seiner ersten Spiele auf konstant hohem Niveau und Stach, Onisiwo und Aaron avancierten durch ihn zu Man-of-the-Match-Kandidaten.

Es wird viel und zurecht über die neu-formierte Dreierkette gesprochen, aber ein defensiverer Lee ist der Missing-Link zu einem kollektiven Auftreten der Mannschaft in Defensive und Offensive. War er zuvor das Sinnbild für Mainz Nullkommafünf, könnte er nun zum Schlüsselspieler für eine konstante Leistung der Mannschaft werden. Traf Lee vorzugsweise dann, wenn er kein gutes Spiel machte, blieb ihm diesmal bei seiner besten Leistung im Trikot von Mainz 05 ein eigener Treffer verwehrt – wenn auch knapp. Verdient hätte er es gehabt.

Schreiben Sie einen Kommentar